Physikalische Therapie bei psychischen Störungen?
Autor:
Dr. med. Rainer Stange
Abteilung für Naturheilkunde Immanuel Krankenhaus Berlin und
Charité – Universitätsmedizin Berlin
E-Mail: r.stange@immanuel.de
Die biologische Psychiatrie interessierte sich schon immer den Einfluss von Umgebungsfaktoren auf Auslösung wie Therapie psychischer Erkrankungen. Einige ruhmlose Beispiele aus der Geschichte der Psychiatrie mit physikalischen Therapien mögen den Blick zeitweise verstellt haben. In jüngerer Vergangenheit liessen sich dagegen günstige Wirkungen und sehr gute Verträglichkeit z.B. für Weisslichttherapie, Ganzkörperhyperthermie mit wassergefilterter Infrarot-A-Strahlung sowie Ganzkörperkältetherapie dokumentieren.
Lichttherapie
Aus der Sicht der Naturheilkunde erstaunt, dass die Weisslichttherapie erst vor Kurzem in die Psychiatrie eingeführt wurde. Das Sonnenlicht als Quelle der Lebenskraft ist dort u.a. durch das Werk des Schweizer Laien-Naturheilkundlers und Lebensreformers Arnold Rikli (1823– 1906) fest verankert. Die Literatur kennt zahlreiche Hinweise auf biopositive Wirkungen des Sonnenlichtes, etwa «Wenn die Sonne scheint, alle Sorge vergeht!» (Johann Wolfgang von Goethe, 1749–1832), oder «Das Sonnenlicht ist die Universalapotheke» (August Friedrich Ferdinand von Kotzebue, 1761–1819).
Tab. 1: Kurzer Abriss der Weisslichttherapie
In der Gegenwart war schon lange aus epidemiologischen Untersuchungen bekannt, dass in vergleichbaren Populationen mit vergleichbaren diagnostischen Standards wie etwa in den USA die Inzidenz der saisonalen Depression (SAD) über etwa 15 nördliche Breitengrade nahezu linear zunimmt. Eine verkürzte Sonnenscheindauer wurde demzufolge schon seit geraumer Zeit ätiologisch begünstigend angenommen. Die Dynamik der Entwicklung dieser Therapieform (Tab. 1) ist allerdings bemerkenswert.
Heute betrachtet man unumstritten die saisonal abhängige Depression (SAD), aber auch die nicht saisonale leichte bis mittelschwere Depression als Indikationen. Ein jüngerer systematischer Review sieht einen klaren Therapieeffekt auch bei bipolaren Depressionen.1 Der Wirkungseintritt beginnt nach etwa einer Woche, die volle Wirkung ist jedoch erst nach mindestens vier Wochen erreicht.
Eine vierarmige Studie untersuchte die Frage einer möglichen Interferenz bzw. Additivität zu konventionellen antidepressiven Therapien.2 Patienten mit nicht saisonaler majorer Depression nach DSM-IV-TR erhielten randomisiert Weißlicht, bzw. ein «Sham»-Weisslicht und zusätzlich 20mg Fluoxetin bzw. ein Placebo. Über acht Wochen ließ sich sehr eindrucksvoll ein additiver Effekt zeigen, an dem Weißlicht und Fluoxetin etwa gleichen Anteil hatten. Patienten mit Verum für beide Modalitäten konnten sich im Mittel auf der Montgomery-Åsberg Depression Rating Scale (MADRS) um 8,8 bzw. 16,9 Einheiten verbessern, 76% galten als Responder, 59% erreichten eine Komplettremission. Wurde Placebo bzw. Sham simultan für beide Modalitäten eingesetzt, reduzierte sich MADRS nur um 9,6 Einheiten, entspr.echend 33% Responder- bzw. 30% Remissionsanteilen.
Offen bleibt die Langzeitempfehlung für Weisslichttherapie. Grundsätzlich bestehen keine Bedenken gegen eine unlimitierte Fortsetzung bei ausreichendem Initialerfolg, es ist jedoch mit Complianceverlust wie Refraktärität zu rechnen. Beides wurde bislang leider nicht untersucht.
Die von Patienten manchmal befürchtete Begünstigung der Phototoxizität eines gleichzeitig eingenommenen Medikamentes muss vor einer Langzeittherapie erläutert werden. Viele Substanzgruppen bzw. Einzelstoffe weisen diese sehr heterogene Reaktionsform grundsätzlich als unerwünschte Wirkung auf, z.B. Thiazid-Diuretika, zahlreiche Antibiotika und Johanniskraut. Bezüglich Eintrittswahrscheinlichkeiten, Abhängigkeit von genetischen Faktoren sowie der Dosis des Medikamentes wie des Lichtes liegen leider wenig gesicherte Aussagen vor. Grundsätzlich ist ein phototoxischer Effekt im Einzelfall nicht vorhersehbar, tritt aber insgesamt relativ selten auf und wenn, dann nahezu unabhängig von der Dosis des verwendeten Medikamentes wie des Lichtes. Die Prognose ist günstig, d.h., nach sofortigem Absetzen des Medikamentes bilden sich die Effloreszenzen, u.U. unterstützt durch eine symptomatische Therapie, rasch zurück. Sind sie einmal aufgetreten, sollte der Patient die inkriminierte Substanz allerdings lebenslang meiden.
Hyperthermie
Milde bis moderate Ganzkörpertherapie mit dem Ziel der Erhöhung der Körperkerntemperatur auf maximal 39,0°C wird seit etwa 30 Jahren ausserhalb der Onkologie zunehmend für Indikationen aus dem Bereich muskuloskelettaler Erkrankungen eingesetzt und beforscht. Ätiologisch kommen sowohl chronische Entzündung wie Degeneration infrage. Über positive Erfahrungen und Studien beim Fibromyalgie- wie beim Reizdarm-Syndrom erschliesst sich der Zugang zu Depressionen zumindest als Komorbidität. Auch onkologische Patienten, die solche Behandlungen mit dem Ziel der sog. Immunorestauration erhielten, berichteten über stimmungsaufhellende Wirkungen.
Diese Form der Hyperthermie wird technisch mit wassergefiltertem Infrarot A (wIRA) realisiert, ist gut verträglich, und wird mit zwei seit vielen Jahren verbreiteten Gerätetypen in (Reha-)Kliniken, aber auch in Tageskliniken oder Praxen angewandt. Als absolute Kontraindikationen nennt eine deutsche Leitlinie, die sehr stark auf onkologische Indikationen abhebt, v.a. schwere zerebrale Mangeldurchblutung, akute schwere Entzündungen (z.B. von Lunge, Leber, Nieren), manifeste Insuffizienz innerer Organe aufgrund von destruktiven Entzündungsprozessen und/oder obstruktiven und destruktiven Neoplasien.3
Eine schweizerisch-deutsch-US-amerikanische Forschergruppe veröffentlichte 2016 eine erste, sehr kleine kontrollierte Studie mit nicht medizinierten depressiven Patienten, deren Erstdiagnose innerhalb der letzten sechs Monate gestellt war.4 Über 6 Wochen konnte eine Reduktion der Hamilton Rating Depression Scale (HDRS) von initial 20,7 auf 12,4 nach nur einer Therapie registriert werden, deutlich mehr als im Kontrollarm mit einer sog. Sham-Therapie (22,8 auf 17,2). Hier blieb durch einen Spezialfilter der sichtbare Anteil der Lampen unverändert, während der für die Tiefenerwärmung verantwortliche Infrarot-Anteil entfiel. Diese sehr erfolgreiche Studie gab Anlass zu derzeit mindestens vier weiteren laufenden, um diesen Effekt zu bestätigen, länger zu beobachten und z.B. anhand von Laborparametern besser zu verstehen. Im forcierten Schwimmtest mit Mäusen liess sich eine stufenweise ausgeprägtere antidepressive Wirkung nur mit Citalopram, nur mit Hyperthermie sowie mit Citalopram plus Hyperthermie darstellen.5
Ganzkörperkryotherapie
Tab. 2: Kurzer Abriss der Ganzkörperkältetherapie («whole-body cryotherapy», meist WBC)
Die Anwendung von Kälte hat eine lange Tradition insbesondere in der mitteleuropäischen Medizin, schon lange bevor sich etwa Mitte des 19. Jh. eine Begrifflichkeit wie «Naturheilkunde» etablierte (Tab. 2). Wasserheilanstalten, die nicht nur, aber sehr viel mit kaltem Wasser arbeiteten, erlebten ab dem späten 17./beginnenden 18. Jh. ihre Blüte. Grosse «Wasserärzte» waren etwa in England Sir John Floyer (1649–1734), im deutschsprachigen Raum Johann Siegmund Hahn (1696–1773) in Schlesien. Bedeutende Laienpersönlichkeiten popularisierten sie in grossen Anstalten, insbesondere Sebastian Kneipp (1821 – 1897) in Oberbayern bzw. Vinzenz Priessnitz (1799–1851) in Schlesien. Aus heutiger Sicht psychosomatische/psychiatrische Störungen gehörten seit jeher zum Indikationsspektrum.
Mit der zunehmenden Verfügbarkeit technischer Kältequellen wurde der nutzbare Temperaturbereich immer weiter nach unten ausgedehnt und es wurden Applikationen eingeführt, die auch dem Anspruch auf gute Verträglichkeit gerecht wurden, etwa die externe Anwendung von flüssigem Stickstoff, der bei Normaldruck als Gas von minus 196°C in den Raum entweicht. Diese wurden vor allem im Bereich muskuloskelettaler Schmerzen eingesetzt und beforscht.
Erst mit der Einführung der Ganzkörperkältetherapie exponierte man kurzzeitig den gesamten, möglichst wenig bekleideten Körper gegenüber Temperaturen deutlich unter minus 50°C. Heute wird die Ganzkörperkryotherapie bis minus 170°C mit Erfolg und guter Verträglichkeit praktiziert. Schon früh glaubte man, auch günstige psychovegetative Wirkungen zu beobachten, und entwickelte etwa Asthma bronchiale als Indikation. Dessen Sonderformen mit Verschlechterung durch kalte Luft galten natürlich als Kontraindikation, ähnlich wie es auch für die koronare Herzkrankheit gut beschrieben ist.
Die Methode etablierte sich insbesondere in der Rheumatologie wegen ihrer systemisch entzündungshemmenden und schmerzlindernden Wirkungen, verbreitete sich aber vermutlich wegen der immensen Kosten für Anschaffung und Betrieb zunächst nur sehr wenig. In den so praktizierenden Kliniken wie der des Autors glaubte man jedoch schon sehr früh, auch stimmungsaufhellende Wirkungen zu beobachten. Nicht zu unterschätzen sind dabei selbst-heroisierende Effekte: Die ärztliche Aufforderung, einen Therapieraum mit minus 110°C in nur dürftiger Bekleidung zu betreten, muss zunächst provokant wirken. Dem selbstverständlichen Umgang hiermit in einer Klinik, die durch eine schnelle erfahrbare solidarische Gemeinschaft aus Professionellen und Patienten vertrauensbildend wirkt, können sich die meisten Patienten jedoch nicht entziehen, sodass eine Probetherapie mit meist verkürzter Aufenthaltsdauer als machbar empfunden wird. Danach ist in der Regel die Schwellenangst vor dieser Massnahme gebrochen. Natürlich kann eine ausgeprägte Klaustrophobie nicht überwunden werden, da auch die grössten Kammern nur Grundflächen von etwa fünf Quadratmetern bei gut zwei Meter Höhe aufweisen. Wenn möglich besuchen Patienten die Kammer regelmässig zweimal täglich an sechs Wochentagen.
Wesentlich für den Therapieerfolg wie die Compliance ist ein Aufenthalt in einer abgeschlossenen Kammer mit Möglichkeit zur Bewegung bei möglichst konstanter Temperatur und minimaler Luftfeuchte sowie Sicht- und Sprechkontakt zum Fachpersonal. Die Therapie erfolgt in kurzen, definierten Zeiten von maximal 3 min. Erfolge sind nur von einer seriellen Anwendung zu erwarten. Die Kombination mit anderen Modalitäten z.B. aus Physiotherapie, Psychotherapie und Pharmakotherapie ist derzeit ohne Beschränkung möglich und erwünscht. In der Rheumatologie beansprucht das Therapieprinzip WBC allein keine ausreichende Wirksamkeit etwa bei hoher Aktivität entzündlicher Gelenkerkrankungen, kann jedoch dazu beitragen, in einem Klinik- oder Reha-Aufenthalt simultan mit weiteren Therapien ausreichende Wirksamkeit zu entfalten.
In der sehr jungen Forschung zu Depression liessen sich dagegen bislang deutlichere Effekte sichern. Insbesondere eine polnische Arbeitsgruppe hat mehrere randomisierte klinische Studien zu WBC bei Depressionen publiziert. Der antidepressive Effekt lässt sich mit gängigen Messinstrumenten wie der HRDS gut abbilden. In einer Studie erfolgte die Verumbehandlung bei minus 110°C bis minus 135°C, die Kontrollbehandlung in derselben Kammer bei minus 50°C.6 Dies sicherte eine gute Verblindung, schloss aber eine schwache Wirksamkeit im «Sham»-Arm nicht aus. Der Gruppenunterschied zwischen den sämtlich medizinierten Patienten nach 10 Therapien à zwei Minuten war jedoch beträchtlich: auf der zu 17 Items verkürzten Hamilton-Skala HAMD-17 von initial 17,4 auf 5,4 für Verum bzw. von 18,4 auf 10,6 für Kontrolle.
Sämtliche Studien beschreiben derzeit Immediateffekte. Ein möglicher Beitrag der WBC zur Langzeitbehandlung von depressiven Patienten steht aus. Als Wirkmechanismus wird vor allem ein Beitrag zur Entzündungskontrolle diskutiert, die zumindest bei einer Untergruppe der Depressiven eine Rolle zu spielen scheint.7 Dies erfolgt im Analogieschluss zu antientzündlichen Effekten der WBC in der Rheumatologie. Dieser ist allerdings nicht a priori zulässig, da chronische Entzündung in der Rheumatologie auf wesentlich höheren Aktivitätsniveaus und unter spezifischen Mustern der zahlreichen am Entzüdungssystem beteiligten Mediatoren krankheitsbestimmend ist.
Zusammenfassung
Weisslicht, Infrarot-A-Hyperthermie sowie Ganzkörperkältetherapie haben erst in den letzten zwei Dekaden Eingang in die Behandlung von Depressiven gefunden. Da die physiologischen Primäreffekte sehr verschieden sind, dürften verschiedene Wirkmechanismen vorliegen, wie Synchronisierung des Melatoninstoffwechsels für die Lichttherapie, entzündungshemmende oder allgemein euphorisierende Effekte für die beiden thermisch wirksamen. In der Forschung finden sich noch viele ungelöste Fragen, insbesondere zum Langzeitstellenwert. Da sich additive Effekte mit üblichen Antidepressiva abzeichnen, erscheint eine Integration in den psychiatrischen Alltag wünschenswert.
Literatur:
1 Hirakawa H et al.: Adjunctive bright light therapy for treating bipolar depression: A systematic review and meta-analysis of randomized controlled trials. Brain Behav 2020; 10: e01876 2 Lam RWet al.: Efficacy of bright light treatment, Fluoxetine, and the combination in patients with nonseasonal major depressive disorder: A randomized clinical trial. JAMA Psychiatry 2016; 73: 56-63. Erratum in: JAMA Psychiatry 2016; 73:90 3 Deutsche Gesellschaft für Hyperthermie (DGHT).Leitlinie zur Ganzkörperhyperthermie - Version 1.0, Oktober 2018. www.heckel-hyperthermia.com/images/downloads/Leitlinie_GKHT_OKT2018.pdf 4 Janssen CW et al.: Whole-body hyperthermia for the treatment of major depressive disorder: A randomized clinical trial. JAMA Psychiatry 2016; 73: 789-95 Erratum in: JAMA Psychiatry 2016; 73: 878 5 Hale MW et al.: Whole-body hyperthermia and a subthreshold dose of citalopram act synergistically to induce antidepressant-like behavioral responses in adolescent rats. Prog Neuropsychopharmacol Biol Psychiatry 2017; 79: 162-8 6 Rymaszewska J et al.: Efficacy of the whole-body cryotherapy as add-on therapy to pharmacological treatment of depression - a randomized controlled trial. Front Psychiatry 2020; 11: 522 7 Janssen EPCJ et al.: Low-grade inflammation and endothelial dysfunction predict four-year risk and course of depressive symptoms: The Maastricht study. Brain Behav Immun 2021; 97: 61-7
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