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Stalking – ein Überblick
Jatros
Autor:
Prof. Dr. Harald Dreßing
Zentralinstitut für Seelische Gesundheit Mannheim<br> Universität Heidelberg<br> E-Mail: harald.dressing@zi-mannheim.de
30
Min. Lesezeit
28.06.2018
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<p class="article-intro">Stalking ist ein relativ häufiges Phänomen, das weitreichende Auswirkungen auf die Betroffenen hat. Sie bestehen oft auch dann noch, wenn der Stalker seine Aktivitäten eingestellt hat. Dieser Beitrag fasst die aktuelle Forschungslage zusammen.</p>
<p class="article-content"><div id="keypoints"> <h2>Keypoints</h2> <ul> <li>Stalking bezeichnet ein Verhaltensmuster, bei dem der Stalker einen anderen Menschen verfolgt, belästigt, bedroht oder körperlich attackiert. Das Opfer empfindet Angst.</li> <li>Stalking hat weitreichende Folgen auf das körperliche und psychische Befinden der Betroffenen.</li> <li>Das Risiko für gewalttätiges Verhalten von Stalkern liegt in einer Spanne von 2–55 % , abhängig von den Definitionskriterien für Gewalt, und ist am höchsten beim Expartner- Stalking.</li> <li>Bei der Behandlung von Stalkingopfern nimmt der Therapeut die Rolle des Koordinators eines weiter gespannten Hilfsnetzes ein.</li> <li>Für die Therapie von Stalkern gibt es bisher keine evidenzbasierten Behandlungsangebote.</li> </ul> </div> <p>Es gibt unterschiedliche klinisch-wissenschaftliche Definitionen von Stalking und auch in der internationalen juristischen Literatur werden unterschiedliche Konzepte verwendet.</p> <p>Einer der ersten klinisch-wissenschaftlichen Definitionsversuche stammt von Meloy und Gotthard, die Stalking als ein beabsichtigtes, böswilliges und wiederholtes Verfolgen und Belästigen einer anderen Person bezeichnen.<sup>1</sup> Pathé definierte Stalking als ein Verhaltensmuster, das darin besteht, dass der Stalker ein Opfer wiederholt mit unerwünschten Kontaktaufnahmen belästigt.<sup>2</sup> Es gibt eine Vielzahl weiterer Definitionsversuche. Letztlich sind die folgenden Kriterien allen Definitionsversuchen gemeinsam: Stalking bezeichnet ein Verhaltensmuster, bei dem der Stalker einen anderen Menschen verfolgt und belästigt, häufig auch bedroht, unter Umständen auch körperlich attackiert und in seltenen Fällen sogar tötet. Das betroffene Opfer empfindet Angst.<sup>3</sup></p> <h2>Epidemiologie</h2> <p>Je nach zugrunde liegender Stalkingdefinition fand sich in angelsächsischen Studien eine Stalkinglebenszeitprävalenz von 4–7,2 % bei Männern und von 12–17,5 % bei Frauen. Diese Ergebnisse verdeutlichen, dass Stalking ein relativ häufiges Phänomen ist und dass Frauen häufiger Opfer von Stalkern werden als Männer. Für Deutschland ergab sich in der vom Autor durchgeführten „Mannheim-Stalkingstudie“ eine Lebenszeitprävalenz für Stalking von 11,6 % . Unter den Stalkingopfern waren 87,2 % Frauen und 12,8 % Männer.<sup>4</sup></p> <h2>Stalkingmethoden und Auswirkungen auf die Opfer</h2> <p>Unerwünschte und ängstigende Kontaktaufnahmen (Stalking) können auf den unterschiedlichsten Wegen stattfinden, z.B. in Form von unerwünschten Telefonanrufen, Briefen, Fax, E-Mails, SMS, Cyberstalking in sozialen Netzwerken, Verfolgen, Auflauern, Herumtreiben in der Nähe der Wohnung oder des Arbeitsplatzes, Zusendung von Geschenken, Bestellungen im Namen und auf Rechnung des Opfers, Beschädigung von Eigentum, Hausfriedensbruch, Drohungen, Körperverletzung, aggressiven Gewalthandlungen, sexueller Nötigung. Stalking kann von einigen Wochen bis zu mehreren Jahren andauern und so bei den Betroffenen chronischen Stress bewirken, der auch psychiatrische Erkrankungen verursachen kann. Grundsätzlich kann jeder Mensch in das Visier eines Stalkers geraten und Stalkingopfer haben auch keine Schuld daran, wenn sie gestalkt werden.</p> <p>Einige Studien haben auch die Auswirkungen von Stalking auf das körperliche und psychische Befinden der Betroffenen untersucht. In der Mannheimer Studie nannten 56,8 % der Betroffenen als Auswirkungen des Stalkings verstärkte Unruhe, 43,6 % gaben Angstsymptome, 41 % Schlafstörungen, 34,6 % Magenschmerzen, 28,2 % Depression, 14,1 % Kopfschmerzen und 11,5 % Panikattacken als Folgen von Stalking an. Ebenfalls zeigte sich, dass das psychische Befinden, erfasst mit dem WHO-5 Well-Being Index, bei Stalkingopfern signifikant schlechter war als bei Vergleichspersonen, die noch nie von Stalking betroffen waren. Knapp ein Fünftel war zeitweise als Folge von Stalking krankgeschrieben.</p> <p>Im Vergleich zu nicht gestalkten Personen zeigen Stalkingopfer signifikant häufiger Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung, einer Depression, einer generalisierten Angststörung und von somatoformen Störungen. Stalkingopfer nehmen auch signifikant häufiger Psychopharmaka ein. Die psychischen Störungen können persistieren, auch wenn die aktuelle Stalkingsituation bereits beendet ist.<sup>5</sup></p> <h2>Stalkertypologie</h2> <p>Es gibt weder eine einheitliche Motivstruktur für Stalking noch eine typische Persönlichkeitsstruktur oder psychopathologische Symptomatik, die sich beim Stalker finden lässt. Aus dem oft sehr auffälligen Stalkingverhalten kann aber nicht abgeleitet werden, dass der Stalker psychisch krank oder für sein Verhalten strafrechtlich nicht verantwortlich ist. Stalking ist in erster Linie zunächst einmal ein kriminelles Delikt, das in vielen Ländern mit eigens dafür geschaffenen Strafgesetzen verfolgt wird. Es gibt eine Vielzahl von Versuchen zur Klassifikation von Stalkern, die unterschiedliche Aspekte für die Typologisierung heranziehen. Dabei werden u.a. die Motive des Stalkers, die Beziehung zwischen Stalker und Opfer oder besondere psychopathologische Auffälligkeiten für die Klassifikation herangezogen.</p> <p>Mullen und Kollegen<sup>6</sup> beschreiben die folgenden fünf Stalkertypen:</p> <ol> <li>den zurückgewiesenen Stalker</li> <li>den Liebe suchendenStalker</li> <li>den inkompetenten Stalker</li> <li>den Rache suchenden Stalker</li> <li>den beutelüsternen Stalker</li> </ol> <p>Der zurückgewiesene Stalker (Expartner- Stalking) hatte eine Beziehung mit dem Stalkingopfer, die zerbrochen ist. Die Motive für das Stalking sind bei diesem Typus Rache und die Hoffnung auf Wiederherstellung der Beziehung. Bei dieser Konstellation ist eine gewaltsame Eskalation bis hin zum Tötungsdelikt am häufigsten.</p> <p>Der Liebe suchende Stalker wünscht sich eine Beziehung mit seinem Opfer. In der Realität hat aber nie eine Beziehung zwischen Täter und Opfer bestanden. Die Realitätsverkennung kann sich bei diesem Typus bis zu einem Liebeswahn steigern.</p> <p>Der Typus des inkompetenten Stalkers zeigt eine geringe intellektuelle und soziale Kompetenz, er ist unerfahren in der Anbahnung und Aufrechterhaltung von Beziehungen. Durch die Stalkingverhaltensweisen versucht der inkompetente Stalker, eine Beziehung aufzunehmen, wobei er nicht in der Lage ist, Zurückweisungen der von ihm verfolgten Person richtig zu interpretieren.</p> <p>Der Rache suchende Stalker verfolgt seine Opfer aufgrund eines tatsächlich oder vermeintlich erlittenen Unrechts. Opfer dieses Stalkertypus sind häufig auch Psychiater und Psychotherapeuten.<sup>7</sup> Der beutelüsterne Stalker plant einen sexuellen Übergriff auf sein Opfer. Im Vorfeld verfolgt er sein Opfer, späht es aus und entwickelt Fantasien bezüglich eines immer konkreter Gestalt annehmenden sexuellen Übergriffs. Insbesondere für den deutschen Rechtskontext wurde vom Autor eine multiaxiale Stalkertypologie publiziert.<sup>8</sup><br /> Stalkingverhalten kann in eher seltenen Fällen als Folge von wahnhaften Störungen, schizophrenen Psychosen oder einer Manie auftreten. Der Anteil psychotischer Stalker an allen Stalkingfällen beträgt vermutlich aber weniger als 10 % . Repräsentative Studien zur psychiatrischen Morbidität von Stalkern gibt es nicht. Auf der psychopathologischen Ebene kann eine zweite Gruppe von Stalkingfällen in die Kategorie der progredienten psychopathologischen Entwicklung eingeordnet werden, die vor allem beim sogenannten Expartner-Stalking auftritt. Dabei entwickelt der zuvor psychisch unauffällige Stalker Symptome wie z.B. eine zunehmende Einengung des Denkens, eine Störung der Realitätsprüfung und eine affektive Einengung. Auf der Verhaltensebene kann das Stalkingverhalten den gesamten Lebensrhythmus bestimmen. Das Geschehen verselbstständigt sich und die Haltungen und Verhaltensweisen lösen sich zunehmend von real vorgegebenen Problemen. Besonders bei der progredienten psychopathologischen Entwicklung kann es zu gewalttätigen Eskalationen kommen, die in der Tötung des ehemaligen Partners kulminieren können.</p> <p>Bei der größten Gruppe der Stalkingfälle ist beim Täter keine gravierende psychiatrische Diagnose zu stellen. Zwar finden sich auch in dieser Gruppe häufig Akzentuierungen der Persönlichkeitsstruktur oder sogar Persönlichkeitsstörungen, meist aus dem Cluster B. Diese sind aber nicht so stark ausgeprägt, dass sie die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Stalkers beeinträchtigen, wenn man die üblichen Kriterien der strafrechtlichen Begutachtung von persönlichkeitsgestörten Tätern beachtet.</p> <h2>Risiko für gewaltsame Eskalation</h2> <p>Das Risiko für gewalttätiges Verhalten von Stalkern liegt in einer Spanne von 2–55 % , abhängig von den Definitionskriterien für Gewalt. Es gibt signifikante Unterschiede zwischen Stalkingfällen, in denen leichtere Formen von Gewalt vorkommen, und Stalkingfällen mit lebensbedrohlicher Gewaltanwendung. Stalker, die lebensbedrohliche Gewalt ausüben, sind bezüglich üblicher Risikofaktoren für delinquentes Verhalten oft völlig unauffällig. Sie sind nicht wegen früherer Gewaltdelikte verurteilt, stehen oft in einem Beschäftigungsverhältnis, praktizieren keinen Substanzmissbrauch und erfüllen auch nicht die Kriterien einer Persönlichkeitsstörung.<sup>9</sup> Das höchste Risiko für eine gewalttätige Eskalation findet sich beim Expartner-Stalking. In etwa 80 % geht dabei einer Gewaltanwendung auch eine konkrete Drohung voraus, d.h., spontane Gewalt im Kontext von Stalking ist selten.</p> <p>Für eine differenzierte Risikoeinschätzung ist das vom Autor ins Deutsche übersetzte Manual „Stalking-Risk-Profil“ empfehlenswert.<sup>10</sup> Strukturiert und operationalisiert kann mithilfe dieses Manuals eine dynamische Risikoeinschätzung vorgenommen werden. Die Risikofaktoren werden in unterschiedliche Kategorien eingeordnet. In die Kategorie mit dem höchsten Risiko für eine gewalttätige Eskalation fallen die sogenannten „Red flag“- Risikofaktoren. Beim Vorliegen solcher Risikofaktoren muss eine unmittelbare Intervention erfolgen. Gemeint sind die folgenden Items: 1. konkrete Suizidpläne des Stalkers, 2. konkrete Tötungsfantasien, 3. „last resort thinking“ („Wenn ich sie nicht haben kann, soll auch kein anderer sie haben“), 4. hoher Psychopathiescore.</p> <h2>Therapie von Stalkingopfern und Stalkern</h2> <p>Bei der Behandlung von Stalkingopfern sollte sich der Therapeut als Koordinator eines weiter gespannten Hilfsnetzes verstehen, das z.B. auch Polizei, Rechtsanwalt, Beratungsstellen und Frauenhaus einbezieht. Sofern sich aufgrund der Risikoanalyse eine hohe Gefahr für das Opfer ergibt, sind zunächst konkrete Schutzmaßnahmen einzuleiten. Vorab sollten die Betroffenen über die Antistalkingregeln informiert werden.</p> <p>Ein wichtiger Therapieansatz ist es dann, den Betroffenen die hinter diesen Regeln stehenden lernpsychologischen Prinzipien der operanten und intermittierenden Verstärkung zu erklären, da viele Stalkingopfer ungewollt das Stalkingverhalten positiv verstärken.</p> <p>Wenn sich Betroffene z.B. aus falsch verstandenem Mitleid oder Schuldgefühlen heraus – z.B. wenn der Stalker mit Suizid droht, nachdem sie die Kontaktangebote längere Zeit ignoriert haben – irgendwann doch noch einmal auf ein Gespräch mit dem Stalker einlassen, verstärken sie sein Verhalten intermittierend. Der Stalker wird sein Verhalten dann aufrechterhalten, da er lernt, dass er nur hartnäckig genug sein muss, um eine Reaktion zu erreichen. Bekanntlich führt die intermittierende Verstärkung zu einem besonders löschungsresistenten Verhalten. Gerade diese Form der Verstärkung wird durch ein inkonsequentes Verhalten von Stalkingopfern aber sehr häufig unabsichtlich praktiziert.</p> <p>Für Interventionen, die gezielt am Umgang mit Stalking und an den damit verbundenen Problemen ansetzen, wurde ein modular aufgebautes, manualisiertes Beratungs- und Interventionsprogramm vom Autor dieses Artikels publiziert.<sup>11</sup></p> <p>Für die Therapie von Stalkern gibt es bisher keine evidenzbasierten Behandlungsangebote. Sofern doch solche Behandlungsbemühungen unternommen werden, ist diesen aus Sicht des Autors mit großer Vorsicht zu begegnen, da es zumindest bis jetzt keine empirisch gesicherten Behandlungsgrundlagen gibt. Sofern dem Stalking eine definierte psychische Störung zugrunde liegt, wie z.B. eine psychotische Störung, so erfolgt die Behandlung dieser Störung nach den bekannten Regeln der Allgemeinpsychiatrie. Stalker ohne krankheitswertige Störung sollten primär aber nicht mit nicht evidenzbasierten Behandlungsangeboten versorgt werden, sondern sie sollten, wie andere Straftäter auch, frühzeitig und klar mit den strafrechtlichen Konsequenzen konfrontiert werden.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2018_Jatros_Neuro_1803_Weblinks_jatros_neuro_1803_s45_tab1+2.jpg" alt="" width="2130" height="1523" /></p></p>
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<a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a>
<div class="collapse" id="collapseLiteratur">
<p><strong>1</strong> Meloy JR, Gotthard S: A demographic and clinical comparison of obsessional followers and offenders with mental disorders. Am J Psychiatry 1995; 152: 258-63 <strong>2</strong> Pathé M: Surviving Stalking. Cambridge: University Press, 1998. pp. 48-9 <strong>3</strong> Dreßing H: Stalking: Diagnostik, Risikoeinschätzung, Behandlungsgrundsätze und Begutachtung. Nervenarzt 2013; 84: 1385-96 <strong>4</strong> Dreßing H et al.: Lifetime prevalence and impact of stalking in a European population. Br J Psychiatry 2005; 187: 168-72 <strong>5</strong> Dreßing H et al.: Mediating effects of stalking victimization on gender differences in mental health. J Interpers Violence 2012; 27: 199-221 <strong>6</strong> Mullen PE et al.: Study of stalkers. Am J Psychiatry 1999; 156: 1244-9 <strong>7</strong> Dreßing H et al.: Stalking von Psychiatern und Psychotherapeuten: Ergebnisse einer Online- Studie. Nervenarzt, epub ahead of print 2017 <strong>8</strong> Dreßing H, Gass P: Multiaxiale Klassifikation von Stalkingfällen – ein Leitfaden zur Begutachtung von Schuldfähigkeit und Prognose. Nervenarzt 2007; 78: 764-72 <strong>9</strong> James DV, Farnham FR: Stalking and serious violence. J Am Acad Psychiatry Law 2003; 31: 432-9 <strong>10</strong> Dreßing H et al.: Stalking: ein Leitfaden zur Risikobeurteilung von Stalkern – das „Stalking Risk Profile“. Stuttgart: Kohlhammer, 2015 <strong>11</strong> Dreßing H et al.: Beratung und Therapie von Stalking-Opfern – ein Leitfaden für die Praxis. Bern: Huber, Hogrefe, 2010</p>
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