
©
Getty Images/iStockphoto
Vergebliche Hoffnung auf Verjüngungskur
Leading Opinions
30
Min. Lesezeit
29.06.2017
Weiterempfehlen
<p class="article-intro">Haben Männer keine Lust mehr auf Sex, fallen ihnen die Haare aus oder fühlen sie sich alt, führen sie das oft auf einen Testosteronmangel zurück und erhoffen sich mit Hormongaben eine Verjüngungskur. Doch dass die Testosteronspiegel wie bei Frauen in den Wechseljahren automatisch mit dem Alter abnehmen, ist ein Mythos. Die Hoffnung, man könne sich mit Testosteron verjüngen oder die Gesundheit verbessern, scheint gemäss neuen Studien begraben zu sein.</p>
<hr />
<p class="article-content"><p>Sie ist weg – und das liegt an meinen Wechseljahren.» Die 15 Jahre jüngere Freundin habe ihn verlassen, erzählt der 61-Jährige dem Psychiater, weil er keine Lust mehr auf Sex habe, ihm die Haare ausgefallen seien und er ziemlich zugenommen habe. Prof. Dr. med. Gregor Hasler, Chefarzt an den Universitären Psychiatrischen Diensten in Bern, erinnert sich noch gut an den Mann. «Er war überzeugt, sein Testosteronspiegel würde sich im akuten Sinkflug befinden und sei schuld an seinen Problemen», erzählt er. Ein Bekannter aus dem Fitnessstudio spritzte dem Mann Testosteron, doch er verlor noch mehr Haare, seine Hoden wurden kleiner, und er hatte immer noch keine Lust auf Sex. Der Mann war frustriert: Warum klappte die «Verjüngungskur» nicht? Aufschluss darüber gibt eine Serie von Studien, die kürzlich veröffentlicht wurden.<sup>1–5</sup> Das ernüchternde Fazit: Die Hoffnung, ältere Männer könnten sich mit Testosteron verjüngen oder ihre Gesundheit verbessern, scheint begraben zu sein.</p> <p>Testosteron ist eines der wichtigsten männlichen Sexualhormone. Wie viel davon produziert wird, regulieren die Hormone LH und FSH aus der Hypophyse, die wiederum vom Hypothalamus gesteuert wird. In den Hoden wird Testosteron über mehrere Zwischenschritte aus Cholesterin gebildet. Es lässt den Mann «typisch männlich» aussehen, ihn sexuelle Lust spüren, eine Erektion bekommen und baut seine Muskeln und Knochen auf. Immer wieder liest man in einschlägigen Fitnessportalen oder Männerzeitschriften, der Testosteronspiegel würde wie bei Frauen in den Wechseljahren im Alter abnehmen, und sie bräuchten Testosteronersatz. «Das ist aber ein Mythos», sagt Prof. Dr. med. Michael Zitzmann, Oberarzt im Centrum für Reproduktionsmedizin und Andrologie an der Universitätsklinik Münster. «Die Testosteronspiegel sinken nicht automatisch mit dem Alter. Wird man nicht übergewichtig, bekommt keine chronischen Krankheiten und hat ein bisschen Glück, behält man fast die Testosteronspiegel der Jugend.»</p> <p>Mit dem Mythos lässt sich allerdings gut Geld verdienen. In den letzten Dekaden nahm der weltweite Verkauf von Testosteronpräparaten um mehr als das Zwölffache zu – und das, obwohl seit dem ersten therapeutischen Einsatz von Testosteron in den 1930er-Jahren Ärzte den Einsatz nur in einer Situation empfehlen: bei nachgewiesenem Mangel an Testosteron.<sup>6</sup> «Durch geschicktes Marketing wurde aber propagiert, quasi jeder ältere Mann bräuchte eine Hormonersatztherapie», sagt Psychiater Hasler. 2002 beschloss das US-amerikanische Institute of Medicine, der Frage auf den Grund zu gehen, und gab die soeben publizierten Studien in Auftrag. Das Fazit: Die Werbung für Testosteron als «Liebeshelfer» oder «Jungbrunnen» basiert auf extrem dünnen Daten. So steigerte Testosteron zwar die sexuelle Funktion geringfügig, aber der Effekt liess nach kurzer Zeit wieder nach. Vitaler und körperlich fitter wurden die Männer nicht, und auch ihre Hirnfunktion besserte sich nicht.<sup>1</sup> Zwar erhöhte sich nach einem Jahr Therapie die Knochendichte. Unklar bleibt jedoch, ob dadurch auch das Risiko für einen Knochenbruch sinkt.<sup>3</sup> Bei Männern mit Anämie vermochte das Testosteron den Hämoglobinwert anzuheben.<sup>4</sup> Dieser Befund muss in weiteren Studien bestätigt werden. Keine Klarheit bringen die neuen Studien darüber, wie sich eine Testosterontherapie auf das Herz-Kreislauf-Risiko auswirkt. Bei den behandelten Männern wurden mehr Plaques in den Koronararterien nachgewiesen, und die Gefässe verengten sich<sup>4</sup> – dies könnte erklären, warum in früheren Studien Testosteron das Risiko für Herzinfarkte oder Schlaganfälle erhöhte. Andererseits hatten Männer in einer Teilstudie nach drei Jahren Therapie ein geringeres kardiovaskuläres Risiko.<sup>5</sup> Aussagekräftige randomisierte Studien fehlen. Aber nur so liesse sich klären, ob sich eine Hormonsubstitution günstig auf Herzinfarkt und Tod auswirke. «Aus kardiologischer Sicht braucht kein Mann eine Testosterontherapie», sagt Prof. Dr. med. Thomas Lüscher, Direktor der Kardiologie am Universitätsspital Zürich.</p> <p>Bagatellisieren dürfe man das Problem jedoch nicht, sagt Dr. med. Christian Sigg, Androloge in Zürich. Denn manche Männer hätten durchaus einen Testosteronmangel, also weniger als 12nmol/l im Blut. Immer wieder liest man, der Testosteronwert sinke ab etwa 35 Jahren um rund 1 % pro Jahr und noch schneller, wenn man an einer chronischen Krankheit oder Stress leide, bestimmte Medikamente nehme oder übergewichtig sei. Doch die Testosteronspiegel sinken im Schnitt gar nicht, wenn man gesund bleibt, wie Forscher aus Grossbritannien zeigten. So haben manche selbst mit 80 noch die Werte eines 28-Jährigen.<sup>7</sup> «Man kann viel dafür tun, dass die Testosteronspiegel hoch bleiben», sagt Androloge Zitzmann, «nämlich Normalgewicht behalten.»</p> <p>Zu Prof. Dr. med. George Thalmann, dem Chefurologen am Inselspital in Bern, kommen immer mehr Männer, die meinen, zu wenig Testosteron zu haben. «Sie klagen über Probleme beim Sex, Depressionen, Stimmungsschwankungen, Erschöpfung und reduzierte Vitalität», erzählt er. Er misst dann zweimal den Testosteronwert, da dieser schwanken kann. Liegt wirklich ein Mangel vor, klärt er, ob die Beschwerden nicht noch von anderen Problemen herrühren könnten, etwa Stress mit der Partnerin oder im Job.</p> <p>Männer würden schlechter mit dem Altern zurechtkommen als Frauen, sagt Prof. Dr. rer. soc. Anne Maria Möller-Leimkühler, Sozialwissenschafterin an der Ludwig-Maximilians-Universität in München, vor allem wenn sie sich vornehmlich über Leistung und Erfolg definiert haben. «Mit 40 bis 60 bekommen Männer oft eine Identitätskrise. Sie sind unzufrieden mit sich, dem Leben, ihrer Gesundheit, zweifeln an sich selbst, sind ängstlich und depressiv», sagt sie. «Das hat aber eher mit männlichem Geschlechtsrollenstress zu tun als mit einem Testosteronmangel.»</p> <p>Liegt der Testosteronwert am unteren Grenzwert, gilt es, individuell zu überlegen, ob sich eine Therapie mit allfälligen Nebenwirkungen lohnt. Man dürfe sich nicht der Illusion hingeben, dass man die Potenz, Leistungsfähigkeit und Energie der Jugend wieder erreicht, sagt Sigg. «Die Männer haben oft falsche Vorstellungen. Testosteron ist nun mal keine Verjüngungskur.»</p> <p>Mit dem 61-jährigen Mann unterhielt sich Psychiater Hasler beim ersten Gespräch lange. Er habe schon mehrere Jahre Probleme mit seiner Freundin gehabt, gab der Mann zu. Immer mehr hatte er auch den Eindruck, sein Sohn wolle nichts mehr mit ihm zu tun haben. «In der Psychotherapie sah er zunehmend ein, dass seine Probleme nicht plötzlich aufgetreten waren und man sie auch nicht durch einen Hormonmangel erklären konnte», erzählt Hasler. Der Mann lernte, seine Veränderungen als normalen Alterungsprozess zu verstehen, und ergriff die Chance für eine neue Beziehung. «Sein Sohn kam jetzt wieder öfter vorbei, um sich von dem frisch verliebten Paar bekochen zu lassen», sagt Hasler. «Von Testosteronspritzen wollte der Mann nichts mehr wissen.»</p></p>
<p class="article-footer">
<a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a>
<div class="collapse" id="collapseLiteratur">
<p><strong>1</strong> Resnick SM et al: JAMA 2017; 317(7): 717-27 <strong>2</strong> Roy CN et al: JAMA Intern Med (online), 21. Februar 2017 <strong>3</strong> Snyder P J et al: JAMA Intern Med (online), 21. Februar 2017 <strong>4</strong> Budoff MJ et al: JAMA 2017; 317(7): 708-16 <strong>5</strong> Cheetham TC et al: JAMA Intern Med (online), 21. Februar 2017<strong>6</strong> Handelsman D J: JAMA 2017; 317(7): 699-701 <strong>7</strong> Kelsey TW et al: PLoS One 2014; 9(10): e109346</p>
</div>
</p>
Das könnte Sie auch interessieren:
Das «Feeling Safe»-Programm und eine neue postgraduale Fortbildungsmöglichkeit in der Schweiz
Evidenzbasierte Psychotherapie für Menschen mit Psychosen ist sehr wirksam. Sie gilt heute wie auch die Pharmakotherapie als zentraler Bestandteil einer modernen, Recovery-orientierten ...
Psychedelika in der Psychiatrie
Stellen Sie sich vor, Ihr Gehirn ist wie eine verschlungene Landkarte, auf der die immer gleichen Wege gefahren werden. Diese Strassen sind Ihre Denkmuster, Gefühle und Erinnerungen. ...
Klinische Interventionsstudie bei ME/CFS
An der Klinik für Konsiliarpsychiatrie und Psychosomatik des Universitätsspitals Zürich wird eine Sprechstunde für chronische Fatigue angeboten. Seit 2023 wird hier in Zusammenarbeit mit ...