
Was Kinder- und Jugendpsychiater*innen aktuell beschäftigt
Autor:
Dr. med. Oliver Bilke-Hentsch, MBA LL.M.
Chefarzt KJPD
Luzerner Psychiatrie
Kinder- und Jugendpsychiatrie
Luzern
E-Mail: oliver.bilke@lups.ch
Nach coronabedingt langer Zeit fand der traditionelle Kongress der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie (DGKJP) im Mai in Magdeburg und jener der European Society for Child and Adolescent Psychiatry (ESCAP) in Maastricht im Juni mit reger Beteiligung von jeweils etwa 500 bzw. 850 Fachpersonen statt.
DGKJP-Kongress in Magdeburg
Der DGKJP-Kongress, der auch eine grössere Anzahl an Teilnehmenden aus der Schweiz und Österreich hatte, stand naturgemäss unter dem Eindruck der Covid-Pandemie und den unterschiedlichen Reaktionsformen von Patient*innen, Familien, aber auch ganzen Gesundheitssystemen. Mehrere retrospektive und prospektive Studien wurden vorgestellt, die den seit zwei Jahren deutlichen klinischen Eindruck im Wesentlichen bestätigten, dass Angsterkrankungen, Depressionen, Traumafolgestörungen, aber auch Suizidgedanken und Suizidversuche deutlich zugenommen hatten. Auch die zumindest vorübergehend stärkere Belastung von Mädchen gegenüber Jungen wurde in verschiedenen Arbeiten bestätigt.
Digitale Anwendungen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie
Ein weiterer Schwerpunkt des Kongresses war die Digitalisierung und es wurden zunehmend anwenderfreundliche und individualisierte Apps und Computerprogramme vorgestellt, die neben psychoedukativen auch Früherkennungs- und Frühinterventionsanteile beinhalten. Noch keine grössere Rolle spielten digitale Gesundheitsanwendungen (sogenannte DIGAs), hier ist die Entwicklung noch im Gange.
Gendervarianz und Geschlechtsidentität im Fokus
Unter dem nosologischen und gleichzeitig unter dem Diversity-Aspekt wurde die Thematik der Gendervarianz und der Geschlechtsidentitätsstörungen breit in mehreren Symposien und State-of-the-Art-Vorträgen erörtert.
Hier zeigte sich das anspruchsvolle Spannungsfeld zwischen dem Erkennen und Behandeln seelischer Störungen, der Reduktion von Stigmatisierung geschlechtlicher Varietäten und dem Entwicklungs- und Verantwortungsaspekt von Familien und Fachpersonen.
Eher etwas im Hintergrund standen die grossen klassischen psychiatrischen Störungsbilder wie Schizophrenie, Zwangserkrankungen oder auch Suchterkrankungen.
Der DGKJP-Kongress wurde von Professor Henning Flechtner, Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Universitätsklinikum Magdeburg, hervorragend organisiert und auch unter ethischem und sozialem Aspekt gestaltet. Er fand bei bestem Wetter in den etwas ausserhalb der Stadt gelegenen Messehallen statt und war von einer Lebhaftigkeit des Austauschs und der Begegnung geprägt, die dem Kongressmotto «Von ganz weit bis hierher und dann noch viel weiter» voll entsprach.
ESCAP-Kongress in Maastricht
Etwas über 800 Kolleginnen und Kollegen, Forschende und Kliniker trafen sich im Juni im Kongresszentrum von Maastricht, Niederlande, zum ESCAP-Kongress 2022.
Auch hier stand – allerdings im internationalen Vergleich – die Befundlage im Kontext der Covid-Pandemie im Vordergrund und es zeigten sich die erheblichen Unterschiede zwischen den Situationen in den europäischen Ländern.
Psychiatrische Versorgungslage bei Kindern und Jugendlichen während der Pandemie
Die regionalen Unterschiede, was die Versorgungsdichte und die Versorgungsqualität und insgesamt die Inanspruchnahme von Versorgung angeht, die bereits in einzelnen Ländern deutlich geworden waren, wurden auf europäischer Ebene deutlich gemacht anhand des klaren Unterschieds zwischen den skandinavischen Ländern, der Schweiz und bestimmten deutschen Regionen und anderen Ländern, sei es Grossbritannien, Österreich, aber auch die Niederlande, in denen das Versorgungssystem abgesehen von Modellprojekten nur langsam reagiert hatte.
Wie beim Kongress berichtet wurde, manifestierten sich diese Unterschiede in der Dauer von Schulschliessungen und anderen in die Freiheits-, Persönlichkeits- und Entwicklungsrechte von Kindern und Jugendlichen eingreifenden Massnahmen in der Chronifizierung und dem Schweregrad psychischer Störungen.
Mehrere Autor*innen wiesen allerdings darauf hin, dass eine Verstärkung seelischer Probleme bei Kindern und Jugendlichen und eine stärkere Inanspruchnahme kinder- und jugendpsychiatrischer und -psychotherapeutischer Leistungen bereits ab dem Jahre 2010, mit einem Höhepunkt im Jahr 2017, festzustellen war und aus klinisch-epidemiologischer Sicht die Coronaproblematik diesen Prozess wohl noch deutlich beschleunigte. Expert*innen aus dem UK rechneten vor, dass etwa die 4- bis 6-fache Anzahl an Fachpersonen gebraucht würde, um die seelischen Nöte von Kindern und Jugendlichen abzufangen.
Arzt/Ärztin-Patient*innen-Kommunikation
Ein weiterer wesentlicher Aspekt der ESCAP-Tagung war die Antistigmatisierung mit starkem Einbezug von Patientengruppen, Laienorganisationen und insgesamt einer Hinwendung zum Neurodiversitätsansatz. Der Diskurs mit den Patientinnen und Patienten «auf Augenhöhe» sowie die Akzeptanz von unterschiedlichen Denk- und Kommunikationsstilen wie beispielsweise bei Menschen mit Autismusspektrum und Menschen mit ADHS wurden breit erörtert. Hier scheint sich auch international ein Paradigmenwechsel anzubahnen.
Hochkarätige State-of-the-Art-Vorträge
Von höchster Qualität waren die State-of-the-Art-Vorträge beispielsweise von Professorin Kerstin von Plessen, Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie des Departments für Psychiatrie am Universitätsspital Lausanne, zum Thema Zwang, Tic und Tourettesyndrom oder von Professor Johannes Hebebrand, Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters des LVR-Klinikums Essen an der Universität Duisburg-Essen zum Stoffwechsel bei Anorexie, um nur einige zu nennen.
Rege Teilnahme der angehenden Psychiater*innen
Sehr beachtlich beim Kongress waren das relativ junge Alter der Teilnehmenden und Vortragenden, was vor allem an den vielen Doktorand*innen und Diplomand*innen deutlich wurde, und ein bemerkenswerter Geschlechterunterschied von Frauen zu Männern im Verhältnis etwa von 5:1. Eine schöne Posterausstellung mit vielfältigen interessanten Befunden und ein angenehmer Gesellschaftsabend rundeten das Gesamtbild ab.
Fazit
Insgesamt waren beide Kongresse nicht nur für die Entwicklung des Fachgebietes, sondern auch für den kollegialen und translationalen Austausch von grosser Bedeutung.
Quelle:
Kongress der European Society for Child and Adolescent Psychiatry (ESCAP), 19.–21. Juni 2022, Maastricht; Kongress der Deutschen Gesellschaft für Kinder und Jugendpsychiatrie (DGKJP), 18.–21. Mai 2022, Magdeburg
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