Wirksame Kurztherapie nach Suizidversuch neu auch zu Hause
Autoren:
Dr. phil. Anja Gysin-Maillart
Prof. Dr. med. Sebastian Walther
Stella Brogna, B.Sc.
Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Bern
Korrespondierende Autoren:
Dr. phil. Anja Gysin-Maillart
E-Mail: anja.gysin@upd.unibe.ch
Prof. Dr. med. Sebastian Walther
E-Mail: sebastian.walther@upd.unibe.ch
Die Kurztherapie ASSIP («Attempted Suicide Short Intervention Program») für Menschen nach einem Suizidversuch wird neu seit Mitte Oktober 2021 auch bei den Betroffenen zu Hause durchgeführt. Damit sollen Personen erreicht werden, die bisher keinen Zugang zur ASSIP-Sprechstunde hatten, um suizidales Verhalten sowie (Re-)Hospitalisierungen zu reduzieren. Dieses innovative Projekt wird über vier Jahre hinweg von der Gesundheitsförderung Schweiz unterstützt und soll in den Kantonen Bern, Neuchâtel, Waadt und Zürich umgesetzt werden.
Keypoints
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Trotz der Verfügbarkeit suizidspezifischer Interventionen für Menschen nach Suizidversuch bleibt die Erreichbarkeit der Betroffenen eine der grössten Herausforderungen in der Nachsorge nach Suizidversuch.
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Das innovative neue Versorgungsangebot von ASSIP Home Treatment bringt die suizidspezifische wirksame Kurztherapie ASSIP in mobiler Form zu den Menschen nach Hause.
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Seit Oktober 2021 wird ASSIP Home Treatment im Kanton Bern angeboten. In der nächsten Stufe des Projektes werden die Erfahrungen aus Bern auf die Kantone Zürich, Waadt und Neuchâtel übertragen. Bald wird ASSIP auch in diesen Kantonen als wirksame Kurztherapie nach Suizidversuch im Home Treatment angeboten.
Jährlich sterben in der Schweiz ungefähr 1000 Menschen an Suizid.1 Dabei stellen Suizide nur die Spitze des Eisbergs dar, denn aus einer Studie des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums (Obsan) geht hervor, dass zum Erhebungszeitpunkt im Jahre 2017 eine halbe Million Menschen Suizidgedanken erlebt und 33000 Menschen in den 12 Monaten davor einen Suizidversuch gemacht haben.2 Ein Suizidversuch in der Lebensgeschichte ist der stärkste Risikofaktor für einen Suizid.3,4 Nach einem Suizidversuch ist das Suizidrisiko um das 40- bis 60-Fache erhöht5,6 und bleibt über Jahre hinweg hoch.7,8 Deshalb ist es zentral, dass Menschen nach einem Suizidversuch routinemässig Zugang zu einer wirksamen und suizidspezifischen Behandlung haben.9
Kurztherapie nach Suizidversuch
Das «Attempted Suicide Short Intervention Program» (ASSIP) wurde an der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie (UPD) in Bern entwickelt und evaluiert. Die Kurztherapie ASSIP richtet sich spezifisch an Menschen nach einem Suizidversuch und beinhaltet drei bis vier Therapiesitzungen mit einem anhaltenden Briefkontakt über zwei Jahre hinweg.10 Eine wissenschaftliche Untersuchung zeigte, dass die Behandlung ASSIP das Risiko für weitere suizidale Handlungen um 80% reduziert.11 Dabei senkt ASSIP kosteneffektiv die Anzahl der Tage stationärer Behandlung sowie der Rehospitalisationen.12 Trotz der Verfügbarkeit solcher suizidspezifischen Interventionen nehmen viele Betroffene nach einem Suizidversuch keine professionelle medizinisch-psychologische Hilfe in Anspruch. Zudem bricht rund die Hälfte der Betroffenen eine Behandlung frühzeitig ab.13,14 Eines der grössten Probleme in der Nachsorge nach Suizidversuch bleibt deshalb die Erreichbarkeit der Menschen. Denn Betroffene fürchten sich oft vor Stigmatisierung oder einer (unfreiwilligen) Hospitalisation. Aufgrund von Scham oder Schuld sowie dem Gefühl, nicht verstanden zu werden, nehmen Menschen nach einem Suizidversuch bestehende Behandlungsangebote oft nicht in Anspruch. Hier setzt das innovative neue Versorgungsangebot von ASSIP Home Treatment an.
Das «ASSIP Home Treatment»-Projekt
Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) hat gemeinsam mit anderen Akteur*innen den Nationalen Aktionsplan Suizidprävention erarbeitet und verabschiedet. Mit dem Aktionsplan soll ein Beitrag zur Reduktion suizidaler Handlungen während Belastungskrisen oder psychischer Erkrankungen geleistet werden.15 Basierend darauf finanziert die Projektförderung «Prävention in der Gesundheitsversorgung» bei Gesundheitsförderung Schweiz die folgenden fünf Suizidpräventionsprojekte im Zeitraum 2021–2024: SERO (Suizidprävention: einheitlich, regional organisiert); WilaDina (Wir lassen dich nicht allein), AdoASSIP (Suizidprävention nach Suizidversuchen bei Jugendlichen), ASSIP (Attempted Suicide Short Intervention Program) en Suisse Romande sowie ASSIP Home Treatment.16
Das «ASSIP Home Treatment»-Projekt wird von Dr. Gysin-Maillart und Prof. Walther, Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Bern, geleitet und bezieht auch Partnerkliniken in den Kantonen Zürich, Waadt und Neuchâtel mit ein. Im Rahmen des Projektes soll die suizidspezifische, wirksame Kurztherapie ASSIP in mobiler Form zu den Menschen nach Hause gebracht werden, um so niederschwellig die Versorgungslücke zwischen stationärer und ambulanter Behandlung zu schliessen. Mit dem Angebot der Kurztherapie ASSIP Home Treatment sollen die Autonomie und Selbstbestimmung der Betroffenen gestärkt werden. Besonders multimorbide Menschen mit Mobilitätseinschränkungen werden von diesem neuen Angebot profitieren. Weiters kann durch die Behandlung im häuslichen Umfeld das Helfernetz der Betroffenen intensiver in die Nachsorge involviert werden.
Im «ASSIP Home Treatment»-Projekt sollen neben der Durchführung der «ASSIP Home Treatment»-Behandlung durch ein mobiles Team folgende Massnahmen bis Ende 2024 in den Kantonen Bern, Zürich, Waadt und Neuchâtel umgesetzt werden:
Stärkung interdisziplinärer Zusammenarbeit
Mit der Durchführung des ASSIP Home Treatment wird die Vernetzung ambulanter und stationärer Dienstleistenden gestärkt werden. Denn das ASSIP Home Treatment wirkt genau an dieser Schnittstelle und versucht, die Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Gesundheitsfachpersonen zu vereinfachen. Dadurch soll letztlich auch die Wirksamkeit der suizidpräventiven Behandlung nachhaltig verbessert werden.
Schulungen für Fachpersonen und Bereitstellung von Informationsmaterial
Im Rahmen des «ASSIP Home Treatment»-Projekts sollen beteiligte Gruppen wie Hausärzt*innen, Notfallzentren, Kliniken, Spitexmitarbeitende oder Angehörigenorganisationen in der Erkennung suizidaler Menschen und im Umgang mit ihnen geschult werden. Durch die Bereitstellung von Informationsmaterial und die Schulung wichtiger Schlüsselpersonen soll die Multiplikation von Grundwissen im Bereich der Suizidprävention und des Umgangs mit suizidgefährdeten Personen gefördert werden.
Evaluation
Die Wirksamkeit, Wirtschaftlichkeit und Zweckmässigkeit des «ASSIP Home Treatment»-Projekts wird von einer PhD-Studierenden sowie einem externen Team des Swiss Tropical and Public Health Institute evaluiert. Dadurch soll die Umsetzbarkeit der Kurztherapie ASSIP überprüft werden.
Projektstand
Abb. 1: ASSIP-Informationsbroschüre
Seit Oktober 2021 wird das ASSIP Home Treatment im Kanton Bern angeboten. Zwei Therapeut*innen kommen mit dem Fahrrad, einem Mobility-Auto oder den öffentlichen Verkehrsmitteln zu den Menschen nach Hause und bieten dort die Kurztherapie ASSIP an. Die Therapeut*innen waren so bereits in der Stadt Bern und deren Agglomeration, in Burgdorf sowie in entfernteren Orten des Kantons wie Lengnau, Lotzwil oder Courtelary für das ASSIP Home Treatment unterwegs. Dieses flexible «Home Treatment»-Angebot ermöglicht es, die Schnittstelle zwischen stationären und ambulanten Angeboten zu stärken. Denn die Kurztherapie ASSIP kann bereits während der stationären Versorgung an der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie oder dem Inselspital Bern starten und dann zu Hause weitergeführt werden. Es ist auch möglich, direkt zu Hause bei den Betroffenen zu beginnen. Bei Bedarf könnte ASSIP sogar in der Praxis von Hausärzt*innen durchgeführt werden.
Zudem bietet das «ASSIP Home Treatment»-Team seit Oktober 2021 auch Schulungen zum Thema suizidales Erleben und Verhalten für Fachpersonen an sowie Informationsveranstaltungen zum Angebot des ASSIP Home Treatment. So konnten seit 2021 verschiedene Schulungen zum Thema suizidales Erleben und Verhalten für Fachpersonen durchgeführt werden und das «ASSIP Home Treatment Angebot» wurde bereits in mehreren Kliniken vorgestellt.
In der nächsten Stufe des «ASSIP Home Treatment»-Projekts werden die Erfahrungen aus Bern auf die Kantone Zürich, Waadt und Neuchâtel übertragen. Dafür werden die Projektleitenden Dr. Gysin-Maillart und Prof. Walther Kolleg*innen der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich (PUK), des Sanatoriums Kilchberg, des Centre Neuchâtelois de Psychiatrie (CNPad I) und des Centre hospitalier universitaire Vaudois (CHUV) in die lokalen Planungen einbeziehen.
Vision des «ASSIP Home Treatment»-Projekts
Praxistipp
Fachpersonen, z. B. Hausärzt*innen, Notfallmediziner*innen, Psychotherapeut*innen oder Spitex, können über die Psychiatrische Poliklinik Bern Patient*innen zuweisen: Telefon 031 632 88 11 oder via E-Mail assip@hin.ch. Weitere Auskünfte zum «ASSIP Home Treatment»-Angebot und zu den Schulungen zum Thema suizidales Erleben und Verhalten sind unter www.assip.org oder per E-Mail unter assip@hin.ch erhältlich.In der Projektlaufzeit von 2021 bis 2024 soll möglichst vielen Menschen nach einem Suizidversuch durch das «ASSIP Home Treatment»-Angebot geholfen werden. Des Weiteren sollen der Modellcharakter und die Evaluation des ASSIP Home Treatment den Grundstein für die Finanzierung und Umsetzung von Folgeprojekten legen, um das Projekt nach seinem Ende erfolgreich auf die Kantone und längerfristig auf die ganze Schweiz zu übertragen. Schlussendlich soll in Zusammenarbeit mit unterschiedlichen Akteur*innen des Gesundheitswesens und anderen Gesellschaftsbereichen die Suizidprävention in der Schweiz vorangetrieben werden.
Literatur:
1 Bundesamt für Statistik. Statistik der Todesursachen und Totgeburten 2019. 2021 [cited 2022 09.03.2022]; Available from: https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/gesundheit/gesundheitszustand/sterblichkeit-todesursachen/spezifische.html 2 Peter C, Tuch A: Suizidgedanken und Suizidversuche in der Schweizer Bevölkerung. Obsan Bulletin, Vol. 7. Nêuchatel, 2019 3 Franklin, JC et al.: Risk factors for suicidal thoughts and behaviors: A meta-analysis of 50 years of research. Psychological Bulletin 2017; 143: 187-232 4 Carroll RC et al.: Hospital presenting self-harm and risk of fatal and non-fatal repetition: systematic review and meta-analysis. PloS One 2014; 9: e89944 5 Hawton K et al.: Suicide following deliberate self-harm: Long-term follow-up of patients who presented to a general hospital. The British Journal of Psychiatry 2003; 182: 537-542 6 Runeson BS: Suicide after parasuicide. BMJ 2002; 325: 1125-6 7 Goldstein RB et al.: The prediction of suicide. Sensitivity, specificity, and predictive value of a multivariate model applied to suicide among 1906 patients with affective disorders. Arch Gen Psychiatry 1991; 48: 418-22 8 Jenkins GR et al.: Suicide rate 22 years after parasuicide: cohort study. BMJ 2002; 325: 1155 9 World Health Organization: Preventing suicide: A global imperative. World Health Organization, 2014 10 Gysin-Maillart A: ASSIP – Kurztherapie nach Suizidversuch. Attempted Sucide Short Intervention Program. 2. Aufl. ed. 2021, Bern: Hogrefe 11 Gysin-Maillart A et al.: A novel brief therapy for patients who attempt suicide: A 24-months follow-up randomized controlled study of the attempted suicide short intervention program (ASSIP). PLoS medicine 2016; 13: e1001968 12 Park AL et al.: Cost-effectiveness of a brief structured intervention program aimed at preventing repeat suicide attempts among those who previously attempted suicide: a secondary analysis of the ASSIP randomized clinical trial. JAMA network open 2018; 1: e183680-e183680 13 Bruffaerts R et al.: Treatment of suicidal people around the world. Br J Psychiatry 2011; 199: 64-70 14 Hawton K et al.: Psychosocial interventions following self-harm in adults: a systematic review and meta-analysis. Lancet Psychiatry 2016; 3: 740-50 15 BAG, GDK, and GFCH: Suizidprävention in der Schweiz. Ausgangslage, Handlungsbedarf und Aktionsplan. 2016 [cited 2022 09.03.2022]; Available from: http://www.bag.admin.ch/suizidpraevention 16 Gesundheitsförderung Schweiz: Projektförderung Prävention in der Gesundheitsversorgung (PGV): Reglement ab 2021. 2021 [cited 2022 09.03.2022]; Available from: https://gesundheitsfoerderung.ch/assets/public/documents/de/2-pgv/Projektfoerderung_PGV_-_Reglement_ab_2021.pdf .
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