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Vermehrt auch in Österreich: genetische Hämoglobinopathien
Bericht:
Reno Barth
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Angesichts der aktuellen Migrationsbewegungen in und um Europa besteht vermehrt die Möglichkeit, im klinischen Alltag mit in Mitteleuropa bisher sehr seltenen genetischen Erkrankungen konfrontiert zu werden. Ein Beispiel dafür sind die in der Mittelmeerregion, aber auch in Teilen Afrikas und Asiens verbreiteten genetischen Hämoglobinopathien.
Keypoints
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Hohes/normales Ferritin in Kombination mit niedrigem Hämoglobin kann für eine chronische Erkrankung wie zum Beispiel eine okkulte Entzündung sprechen.
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Durch Migration treten in Österreich aber auch vermehrt genetische Hämoglobinopathien wie Thalassämie und Sichelzellanämie auf.
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Besonders bei Patient:innen aus dem östlichen Mittelmeerraum oder dem Iran sollten Anämien gründlich abgeklärt werden.
Von den rund 160000 Menschen, die alleine in Wien mit Blutbildveränderungen leben, leiden mehr als zwei Drittel unter verschiedenen Formen von Anämie. Grundsätzlich gilt in der Diagnostik der Anämie eine einfache Faustregel, erläutert Univ.-Prof. Dr. Felix Keil, Leiter der 3. Medizinischen Abteilung im Hanusch-Krankenhaus: Sind sowohl Ferritin als auch Hämoglobin niedrig, handelt es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um eine Eisenmangelanämie. Ist das Ferritin hoch und das Hämoglobin niedrig, so spricht das für eine chronische Erkrankung wie zum Beispiel eine okkulte Entzündung. Keil: „Hat eine Patientin bzw. ein Patient hohes Ferritin und niedriges Hämoglobin, so sollte sie bzw. er Ihre Institution erst verlassen, wenn die Ursache der Anämie geklärt ist.“
Im Gegensatz zu den rund zehn Prozent Prävalenz in Österreich sind Anämien in den Entwicklungs- und Schwellenländern bis zu viermal so häufig. Grund dafür ist einerseits ungünstige Ernährung, andererseits undiagnostizierte bzw. unbehandelte chronische Entzündungen. Darüber hinaus sind regional auch bestimmte Hämoglobinopathien sowie Fiebersyndrome verbreitet. Mit den aktuellen Migrationswellen steigt die Wahrscheinlichkeit, auch in Österreich im Ambulanzbetrieb oder in der Ordination mit diesen Erkrankungen konfrontiert zu werden.
Genetischer Schutz vor Malaria – mit Nebenwirkungen
Eine dieser Erkrankungen ist die Thalassämie, die Mittelmeeranämie. Während die Prävalenz in Österreich bei 1:100000 liegt, ist sie bereits im östlichen Mittelmeerraum deutlich höher (z.B. 25,2 in Griechenland). Im Iran ist die Prävalenz mit 32,6:100000 weltweit am höchsten. Hintergrund dürfte eine geringere Anfälligkeit der heterozygot Betroffenen für Malaria sein, die über die Jahrtausende einen Selektionsvorteil bedeutete. Keil: „Wenn Sie einen Patienten/eine Patientin aus dieser Region mit Anämie und normalem Eisen sehen, dann sollten Sie an eine Thalassämie denken.“
Hämoglobin besteht aus jeweils zwei α- und zwei β-Ketten sowie vier Hämgruppen. Bei der β-Thalassämie handelt es sich um einen genetischen Defekt, der zu fehlerhaften β-Ketten führt, was eine Instabilität des Moleküls bedingt. Die Folge ist eine mikrozytäre, hypochrome Anämie mit normalem Eisen, die bei schweren Formen bereits ab dem dritten Lebensmonat manifest werden kann. Zugrunde liegt meist eine autosomal-rezessiv vererbte Mutation innerhalb des β-Globin-Gens, die zu einer reduzierten Produktion von β-Globin führt.1
Das hat Folgen. Aufgrund des unausgeglichenen Verhältnisses von α- und β-Globin aggregiert Globin, freies und damit instabiles α-Globin generiert reaktive Sauerstoffspezies und damit oxidativen Stress, die Reifung der Erythrozyten-Vorläuferzellen wird gestört und die Erythropoese ineffektiv. Es kommt zu Hämolyse und damit zu chronischer Anämie und Hyperkoagulabilität. Insgesamt kommen rund 260 Mutationen infrage, es besteht kein eindeutiger Zusammenhang zwischen Genotyp und Phänotyp. Ein homozygoter Genotyp ist besonders problematisch, weshalb bei Menschen mit milder Thalassämie eine genetische Beratung empfehlenswert ist. Voraussetzung dafür ist das Erkennen der betroffenen Personen. Im Falle von Kinderwunsch sollte auch der Partner entsprechend getestet werden. Das bedeutet, dass die Betroffenen an ein hämatologisches Zentrum überwiesen werden sollten. Keil: „Thalassämie und Sichelzellanämie bedeuten Zentrumsmedizin.“
Lebenslanger Transfusionsbedarf bei schwerer Erkrankung
Die Diagnostik erfolgt mittels Hämoglobinanalyse durch Elektrophorese sowie genetische Tests. Solche Untersuchungen waren und sind in Ländern mit hoher Prävalenz und ausreichenden Ressourcen Standard. Schwere Erkrankungen bedeuten für die Betroffenen eine lebenslange, massive Belastung. Bereits ab den ersten Lebensmonaten besteht erheblicher Bedarf für Transfusionen mit resultierender Eisenüberlastung und sämtlichen daraus folgenden Schäden an Herz, Leber und Milz. Je nach genetischem Hintergrund und Klinik wird unterschieden zwischen Thalassämie minor, intermedia und major sowie asymptomatischen Trägern. Bereits bei einer Thalassämie minor, bei der eine grenzwertig symptomatische Anämie besteht, können Transfusionen in speziellen Situationen wie zum Beispiel in der Schwangerschaft oder perioperativ erforderlich werden. Die Thalassämie intermedia wird etwa ab dem zweiten Lebensjahr symptomatisch, führt zu milder bis moderater Anämie und klinischen Symptomen. Transfusionen sind häufig erforderlich, das Wachstum ist vermindert. Die Thalassämie major äußert sich schließlich bereits in den ersten Lebensmonaten in Form der schweren Anämie und mit entsprechender Klinik. Transfusionen sind lebenslang überlebensnotwendig. Keil: „Die Lebenserwartung dieser Patient:innen konnte mittlerweile deutlich erhöht werden und die Ergebnisse der Behandlung sind gut. Trotzdem bleibt eine schwere Thalassämie für die Betroffenen eine enorme Belastung. Wichtig im langfristigen Management ist die Vermeidung von Eisenüberlastung.“
Diese kann zu Hepatosplenomegalie, kardialen Problemen und Endokrinopathien führen. Daher ist ein Monitoring nicht nur über das Serum-Ferritin, sondern auch mittels Bildgebung (MRT) erforderlich, was die Bedeutung der Versorgung in spezialisierten Zentren unterstreicht, so Keil. Die Eisenüberladung ist ein entscheidender Mortalitätsfaktor bei Thalassämie. Die seit der Einführung der Eisenchelatoren in den 1970er-Jahren immer besser werdende Kontrolle der Eisenüberladung hat auch zu einer markanten Erhöhung der Lebenserwartung geführt. Aktuell sind mehr als 80% der Betroffenen im Alter von über 45 Jahren noch am Leben, in den 1970er-Jahren erreichte nicht einmal die Hälfte das Erwachsenenalter.2 In Österreich befinden sich derzeit rund 80 Patien:innen mit schwerer Thalassämie in Behandlung.
Gefährliche Gefäßverschlüsse bei Sichelzellanämie
Eine weitere Hämoglobinopathie mit regional sehr unterschiedlicher Häufigkeit ist die Sichelzellanämie, die durch sogenanntes Hämoglobin S (HbS) verursacht wird. HbS entsteht durch eine Punktmutation in der β-Globin-Kette, die eine sichelförmige Deformation der Erythrozyten bewirkt. Die verformten, starren Erythrozyten verklumpen infolge ihrer Rigidität und verstopfen kleine Blutgefäße. Die Sichelung wird durch Trigger wie Infektionen, Hypoxie oder Hypervolämie begünstigt.3
Die Vasookklusion hat eine Reihe von Konsequenzen. Infarkte sind darunter die dramatischsten. Keil: „Ereignisse wie Insulte bei Dreijährigen sind bei Sichelzellanämie durchaus möglich.“ Die Abfolge von Gefäßverschluss und Reperfusion fördert jedoch auch oxidativen Stress und Dysfunktion des Gefäßendothels und damit systemische Inflammation. Klinische Folgen können unter anderem pulmonale Hypertonie oder zerebrovaskuläre Erkrankungen sein. Keil betont, dass vaskuläre Ereignisse in Verbindung mit Anämie immer als Alarmsignal zu werten sind und zu einer Überweisung an ein spezialisiertes Zentrum führen sollten.
Auch die Sichelzellkrankheit ist vor allem in Malariagebieten häufig, da heterozygote Träger mit leichten Formen bei Malariainfektionen bessere Überlebenschancen haben. Jährlich werden weltweit rund 300000 Menschen mit Sichelzellkrankheit geboren, in Österreich leben aktuell rund 140 Betroffene. Mit verstärkter Zuwanderung aus den Endemiegebieten steigt die Wahrscheinlichkeit, im klinischen Alltag in Österreich dieses Krankheitsbild anzutreffen. Auch die Sichelzellanämie sollte zu genetischer Beratung führen. Die Lebenserwartung homozygot Betroffener konnte seit den 1960er-Jahren deutlich erhöht werden, liegt nach wie vor jedoch nur im mittleren Erwachsenenalter, wie Daten aus den USA zeigen.4
Hoffnung für die nahe Zukunft: Stammzell- und Gentherapie
Sowohl bei der Sichelzellanämie als auch bei der Thalassämie bestehen die therapeutischen Optionen derzeit ausschließlich in der Minimierung von Komplikationen, vor allem durch Transfusionen. Das erfordert lebenslange, aufwendige und nebenwirkungsbehaftete Behandlungen. Aktuell besteht allerdings die Chance, gezielte oder sogar kurative Therapieansätze zu entwickeln. Ein Schlüssel dazu könnte fetales Hämoglobin (HbF) sein, das aus zwei α- und zwei γ-Ketten besteht und daher durch Mutationen der β-Kette nicht beeinträchtigt wird. HbF geht normalerweise postnatal nach einigen Monaten verloren. Allerdings ist eine hereditäre Persistenz des fetalen Hämoglobins bis ins Erwachsenenalter bekannt. Zeigen Patient:innen mit Sichelzellanämie oder β-Thalassämie zusätzlich diese Mutation, so verläuft ihre Hämoglobinopathie milder. Dies erklärt auch, warum schwere Sichelzellanämien/Thalassämien erst nach dem sechsten Lebensmonat manifest werden. Die Produktion von HbF kann durch Medikamente (Hydroxycarbamid, Butyrate) stimuliert werden.
Allerdings ergeben sich hier auch Möglichkeiten für die Stammzelltransplantation. Diese kann sowohl eine allogene Transplantation sein, wofür ein passender Spender benötigt wird, als auch eine autologe mit modifizierten Stammzellen. Versuche, den für die Stilllegung der HbF-Produktion verantwortlichen Regulator durch eine Gentherapie stillzulegen, waren in Studien erfolgreich.5 Mit Exagamglogen-Autotemcel hat mittlerweile ein Gentherapeutikum, das auf Modifikation des BCL11A-Gens in autologen CD34+-Zellen basiert, für die Indikationen Thalassämie und Sichelzellanämie die Phase III durchlaufen.6,7 Dabei wurde bei einem hohen Prozentsatz der Patient:innen eine Reduktion des Transfusionsbedarfs auf null bzw. die Verhinderung vasookklusiver Krisen erreicht.
Quelle:
Jahrestagung der Österreichischen Gesellschaft für Rheumatologie & Rehabilitation, Sitzung „Rheuma & Migration“, Univ.-Prof. Dr. Felix Keil am 29. November 2024 in Wien
Literatur:
1 Taher AT et al.: β-Thalassemias. N Engl J Med 2021; 384(8): 727-43 2 Kattamis A et al.: Changing patterns in the epidemiology of β-thalassemia. Eur J Haematol 2020; 105(6): 692-703 3 Odièvre MH et al.: Pathophysiological insights in sickle cell disease. Indian J Med Res 2011; 134(4): 532-7 4 Thein MS et al.: Sickle cell disease in the older adult. Pathology 2017; 49(1): 1-9 5 Frangoul H et al.: CRISPR-Cas9 gene editing for sickle cell disease and β-thalassemia. N Engl J Med 2021; 384(3): 252-60 6 Locatelli F et al.: Exagamglogene autotemcel for transfusion-dependent β-thalassemia. N Engl J Med 2024; 390: 1663-76 7 Frangoul H et al.: Exagamglogene autotemcel for severe sickle cell disease. N Engl J Med 2024; 390(18): 1649-62
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